Du hast also zum dreizehnten
Mal deine Beiträge bezahlt und dein delegate deine niegel nagel
neue Red Card ausgefüllt, die dich nunmehr 5 Jahre begleiten wird
und damit die schnöde einjährige Starterkarte ersetzt?
Wenn dem so ist, zunächst
einmal, herzlichen Glückwunsch und ein Tipp: Versuch sie gar nicht
erst in deiner Brieftasche aufzu-bewahren, das klappt eh nicht.
Zweitens, lass uns darüber nachdenken, wie wir sicher gehen können,
dass dies nur eine von vielen Fünfjahreskarten sein wird. In den USA
haben wir das Ziel in 10 Jahren 10.000 neue Wobblies zu gewinnen.
Sollte uns das gelingen, vor allem im Hinblick darauf, dass wir
weiterhin eine Basisgewerkschaft sein wollen, die von den Mitgliedern
am Laufen gehalten, geführt und finanziert wird, müssen wir ebenso
über die hohe Mitgliederfluktuation reden. Nicht allein aus der
Logik der Mitgliedszahlen heraus, sondern aus der Notwendigkeit
heraus, dass eine Basisgewerkschaft nur funktionieren kann, wenn es
eine bestimmte Anzahl an Mitgliedern gibt, die willens und fähig
sind, sich kritisch mit der eigenen Gewerkschaft auseinander zu
setzen, neue Ideen einzubringen und Strategien zu entwickeln, die
einer konstruktiven Diskussion zuträglich sind.
Die Tatsache, dass
manche Neumitglieder nur EINEN Monat dabei bleiben, sollte uns
traurig stimmen und wir sollten überlegen, wie so etwas nie wieder
passiert. Nichtsdestotrotz stellt ein ebenso drängendes Problem das
Verheitzen der Leute dar, die mittelfristig dabei bleiben, d.h. ihr
erstes Jahr hinter sich haben, aber noch keine Fünfjahreskarte
vollgemacht haben. Obwohl diese Leute bereits einiges an Energie,
Geld und Zeit in die IWW gesteckt haben, hören sie auf einmal auf.
Das kann in einzelnen Fällen sogar dazu führen, dass sie ganz
aufhören gewerkschaftlich aktiv zu sein oder ein/e Hauptamtliche/r
in einer DGB Gewerkschaft werden, sprich es kann unbemerkt oder
kontrovers vonstatten gehen. Wie auch immer sich dieser Prozess
gestaltet, steht fest: Wenn er sich ungebrochen fortsetzt, verlieren
wir die Fähigkeit, eine pluralistische und demokratische
Organisation zu sein. Und dies ist etwas, worüber wir unbedingt
reden müssen. Im Folgenden möchte ich allen Wobblies, die bereits
länger als ein Jahr dabei sind, ein paar Tipps geben, wie sie in der
IWW ein langfristiges Zuhause finden.
Ich bin immer sehr skeptisch
Leuten gegenüber, deren ganzes Leben linker Politik und Theorie
gewidmet ist. Manche würden zynisch darauf erwidern, dass dies genau
die Leute sind, die dann zu kleinen Stalins werden. Inwiefern dies
stimmt, vermag ich nicht einzuschätzen, und es ist auch nicht meine
Sache, dies zu tun. Das Problem, das wir aber haben, liegt an dem
Umstand, dass es zurzeit keine ernstzunehmende radikale
ArbeiterInnenbewegung gibt und alle Versuche, sich hundertprozentig
radikaler Politik zu verschreiben, doch eher einem Kampf gegen
Windmühlen gleicht. Eben diese Mentalität und dieser Lifestyle
tragen zur Entstehung von Politsekten bei, statt zu einer breiten
Bewegung zu führen, die eine Vielzahl an Lohnabhängigen anspricht.
Vergleichen wir dies nun mit Nerdtum in anderen Bereichen, sprich
Menschen, die all ihre intellektuelle und soziale Energie dafür
aufwenden, in einem speziellen Feld ein/e MeisterIn zu werden (z.B.
der Comicbuchverkäufer bei den Simpsons). Ich glaube, genau dies
kann einen Teufelskreis auslösen, in dessen Folge die eigenen
sozialen Fähigkeiten leiden und deshalb noch stärker versucht wird,
dies durch Fähigkeiten und Wissen in diesen Spezialbereichen
auszugleichen. Letztendlich gibt es nur noch in diesen Bereich
soziale Interaktionen, wodurch bewusst oder unbewusst immense
Barrieren aufgebaut werden, wenn Menschen von „außerhalb“ in den
Kreis integriert werden sollen.
Wir alle kennen genau diese
Art von Menschen, welche dann auch AktivistInnen geworden sind. Aber
anders als in einem Bikerclub oder Lesekreis sind wir eine
demokratische Organisation, die Entscheidungen über wichtige Themen
fällen muss. Und leider sind es genau diese Leute, die eine sehr
genau Vorstellung davon haben, wie die Organisation laufen soll, und,
wenn dem nicht Folge geleistet wird, werden sie auch schnell mal sehr
laut. Wenn dann auch noch mehr als ein Politnerd anwesend ist, gehen
sie sich schnell an die Gurgel oder jeder anderen Person, die eine
Meinung hat. Nach einiger Zeit brennen diese Leute dann aus, da es
sie frustriert, dass die Gruppe oder die Organisation als Ganze die
falschen Entscheidungen trifft, oder sie vergiften die interne
Diskussions- und Entscheidungskultur so sehr, dass sie vom Rest
gebeten werden müssen, zu gehen. Es wäre ja schon fatal, wenn dies
“nur“ zerstörerisch ihnen selbst gegenüber wäre. Doch in der
Regel, wenn diese Personen die Organisation verlassen, haben sie
bereits andere Leute so stark beeinflusst, dass diese ebenfalls gehen
oder eben gar nicht erst beitreten.
Ihr werdet die ersten Zeichen
erkennen, vor allem wenn euer/eure engste KollegIn anfängt, Sachen
zu sagen wie: „Es ist wahr, dass sich diese Personen wie Idioten
aufführen, aber sie haben in der Vergangenheit einiges für die
Gewerkschaft getan“, oder Ähnliches. Lasst nicht zu, dass euch das
auch passiert, denn zu diesem Zeitpunkt mag es schon zu spät sein.
Deshalb sucht euch Aktivitäten außerhalb der Gewerkschaft, die euch
Spaß machen, geistig fit halten und in Kontakt zu Leuten außerhalb
der Ortsgruppe treten lassen. Wenn Leute dich auf Arbeit nach deinen
Hobbies fragen und du noch nicht bereit bist über die Gewerkschaft
zu reden, kannst du mehr sagen als „Öhhhmmm…also…“
Ich bin überzeugt davon, dass
ein Grund dafür, dass wir eine so hohe Fluktuation an Mitgliederein-
und austritten haben, damit zu tun hat, dass manche AktivistInnen
bewusst oder unbewusst wie Che Guevara leben wollen. Neumitglieder,
vor allem in ihren frühen Zwanzigern, noch in der Ausbildung
befindend oder gerade beendend, werden dazu ermutigt, in Bereichen zu
salzen, die meistens neben gerade mal dem Mindestlohn generell scheiß
Arbeitsbedingungen aufweisen. Von ihnen wird dadurch quasi erwartet,
ihr Leben in den Pausenmodus zu stellen, während sie dort arbeiten
um zu organisieren. Dabei gibt es allerdings ein Problem: Wenn die
Entscheidung nur als eine individuelle getroffen wird ohne eine
Strategie dahinter, ist sie nur eine andere Form von Aktivismus (z.B.
Aktionismus um des Aktionismus willen). Der Event-Hopper Lifestyle
und der, sich mal ne Weile in einen Betrieb „einzuzecken“, haben
vieles gemein und es sollte daher nicht überraschen, dass diese vor
allem für Anfang-Zwanziger anziehend sind. Wenn dies jedoch zum
Fokus der Gewerkschaft wird, werden ältere KollegInnen in anderen
Bereichen schnell sich entfremdet von ihnen und deren Problem fühlen
und sich langsam abwenden. Dies würde uns schnell auf eine
Gewerkschaftssozialstruktur werfen, die vor allem junge (Szene-)
Leute repräsentiert mit einer verschwindenden Relevanz für
“ältere“ KollegInnen. Währenddessen wird ab einem bestimmten
Punkt jede Person in diesen prekären z.B. Einzelhandelsjobs nach
einem besseren Job suchen. Vielleicht sogar nach etwas, ohne eine
Organisierungsperspektive und dem ganzen damit verbundenen sozialen
und aktivistischen Arbeitsdruck.
Die Leute, die salzen gegangen sind,
werden nach Jobs Ausschau halten, mit der sie ihre Rechnungen
pünktlich bezahlen können, wo ihnen vielleicht sogar Respekt auf
Arbeit entgegen gebracht wird undPrivates und Lohnarbeit in einem
irgendwie gearteten, aber besseren Verhältnis zueinander stehen usw.
Genau an diesem Punkt werden viele Leute die Gewerkschaft verlassen,
vor allem diejenigen, die dann als bezahlte FunktionärInnen in
DGB-Gewerkschaften landen. Bei Starbucks zum Beispiel, obwohl es
diesbezüglich keine gesicherten Daten gibt, glaube ich, dass drei
von fünf Wobblies, die dort angefangen haben zu organisieren, nicht
mehr in der IWW sind und eine Person bei einer großen Gewerkschaft
als FunktionärIn gelandet ist. An dieser Stelle möchte ich zwei
Dinge klar stellen: Erstens denke ich, dass Menschen in prekären
Jobs unbedingt militante Klassen-Gewerkschaften gründen können und
sollen. Ich glaube nämlich, dass man niemals die Lebenswelt seiner
KollegInnen in dem Bereich wirklich nachvollziehen kann, wenn mensch
nicht selbst diese erniedrigenden Arbeitsbedingungen kennt und dort
gearbeitet hat, um zu sehen, dass neben der miesen Bezahlung und der
Überarbeitung die psychologische Zurichtung und Manipulation noch
hinzu kommt. Ich verstehe natürlich, dass strukturell immer mehr
Menschen in prekärer Beschäftigung tätig werden und sind, vor
allem ältere KollegInnen und Fellow Workers mit Kindern, und ich
denke, wir sollten uns unbedingt mit diesen zusammen organisieren.
Nichtsdestotrotz würde ich es gerne sehen, dass wir uns mehr darum
bemühen, KollegInnen zu finden, die bereits dort aktiv sind oder
werden wollen, statt andere als Organizer rein zu schicken, die dann
Organizing-Kampagnen im Stile einer Kaderorganisation starten. Ein
oder zwei Jahre sind eine lange Zeit im Leben eines Menschen, aber
eine sehr kurze im Verhältnis zu einem Arbeitsleben. Zweitens, ich
bin nicht dagegen, aus politischen oder gewerkschaftlichen Gründen
einen Job anzunehmen oder an Protesten teilzunehmen bzw. zu
organisieren, solange sie Sinn ergeben.
Wogegen ich allerdings bin,
ist eine Verkehrung von Strategie in Ideologie. Die Frage, ob mensch
an einem Protest teilnehmen oder diesen organisieren oder diesen oder
jenen Job annehmen soll, sollte auf Basis von erwartbaren und
potentiellen Ergebnissen im Verhältnis zu dem stehen, was mensch
meint damit aufzugeben. All das sollte wiederum mit unseren
Erfahrungen und Versuchen abgeglichen werde, die wir als IWW bisher
gemacht haben. Gibt es bereits ein Komitee in dem Betrieb mit einer
gewissen Stärke, mag dies ermutigend sein für arbeitslose
Mitglieder, sich zu bewerben um mehr EInfluss zu gewinnen. Doch das
ist weit davon entfernt zu sagen: „Mach einen Job, den du nicht
leiden kannst oder dir vorstellen kannst, länger zu halten, und wo
du der/die einzige OrganizerIn sein wirst… Ach ja, und lass uns
wissen, wie es läuft!“. Dieser taktische Ansatz des Salzens ist
ein gänzlich anderer, als der, einfach überall zu salzen, welcher
aus der Anti-Globalisierungs-Lasst-uns-überall-prostieren-Ideologie
herrührt. Die hohe Fluktuation ist der Preis, den wir für so etwas
zahlen. Stellt euch vor, wir beflügeln alle im Einzelhandel zu
arbeiten, bis sie ausgebrannt sind, anstatt sie zu ermutigen,
LehrerInnen, Pflegekräfte oder SchaffnerInnen zu werden entsprechend
dem, was sie eigentlich interessiert hätte. Denn das sind die Arten
von Karrieren, die zumindest eine gewisse finanzielle Stabilität
schaffen, die Leute dazu bewegen, länger in ihrem Beruf zu bleiben,
um Wurzeln zu schlagen und organische OrganizerInnen zu werden. Ich
will damit nicht sagen, dass wir alle genau diese Jobs annehmen
sollen, aber wir sollten jüngere, neue Mitglieder dazu ermutigen,
über solche Themen nachzudenken. Denn nur dann können wir eine
stärkere Organisation mit weniger Verbitterung und mehr
Organizing-Potential werden sowie besser und ernsthafter aufgestellt
sein.
Wir hätten mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit auch mehr
Mitglieder in den 30ern mit Kindern aus zwei Gründen: erstens, weil
die Wobblies, die mit 20 beigetreten sind, immer noch dabei sind, und
zweitens, weil sie ihre gleichaltrigen KollegInnen mit einbeziehen
würden. Daher möchte ich neue Fellow Workers nicht darin ermutigen,
einfach in die nächste Ausbeuterkette salzen zu gehen, die
vermeintlich gerade am attraktivsten erscheint. In der Tat würde ich
aktiv davon abraten, wenn sie nicht gerade von einem bereits dort
bestehenden Komitee/Betriebsgruppe dafür angefragt werden und daher
sehr bewusst diese strategische Entscheidung treffen. An die jungen
KollegInnen in einer existentiellen Krise, die denken, ein paar
Jahre salzen im Einzelhandel werden diese Krise schon lösen, möchte
ich sagen: Versuch dir eine Branche vorzustellen, in der 5-10 Jahre
arbeitest ohne verrückt zu werden, die mit dem, was du magst,
zusammengeht, und erstell einen Plan, wie du in diesen Bereich
gelangst. Wenn du das geschafft hast, verbring ein Jahr lernend und
versuch, dich an deinen KollegInnen zu orientieren, während du mehr
als alles andere versuchen solltest, Solidarität zu schaffen, bevor
das eigentlich aktive Sich-Organisieren losgehen kann (es sei denn,
es gibt schon Organisierungsvorgänge bzw. die Zeit ist reif). Dieser
Ansatz, denke ich, würde eine nachhaltige Entwicklung befördern,
die langfristig ausgerichtet ist und uns Einfluss in verschiedenen
Industrien sichert.
In anderen Worten, heilige
Kühe darf es in einer Gewerkschaft nicht geben. Alles wurde von
anderen Wobblies vor uns erdacht, die natürlich auch nur Menschen
waren. Vor allem bezüglich unserer Geschäftsordnung scheint
manchmal eine Art Ehrfurcht zu existieren, welche natürlich
existentiell ist, um Regelverstöße zu vermeiden, um klar zu machen,
was unsere Grundsätze sind. Sie darf uns allerdings nicht in unserer
Fähigkeit beeinflussen, uns Veränderungen vorstellen zu können,
die notwendig sind. Typischerweise werden manche Dinge einfach nur
deshalb so getan, weil sie schon immer so gemacht wurden. Warum
werden bspw. die Mitgliedsbeiträge aufgeteilt oder gibt es das recht
komplexe Delegierten-Ortsgruppen-Allgemeine Verwaltung
Berichterstattungssystem? Oder warum reden wir über
Industriegewerkschaften innerhalb der IWW, die doch eher Phantome
sind? Ich sage nicht, dass wir einfach Dinge ändern sollten nur der
Änderung wegen, aber trotzdem sollten wir darüber nachdenken
dürfen, alles prinzipiell ändern zu können. (Ein anderer Punkt
bezieht sich auf die Tragweite von Änderungen. Wir sind die
Gewerkschaft und Wandel sollte von der Mitgliederbasis ausgehen,
nicht nur von den Offiziellen bzw. MandatsträgerInnen – mehr dazu
später)
4. Lernt, Nein zu sagen –
Demokratie bedeutet, sich darin zu bestärken, gegen Dinge zu
stimmen, mit denen mensch nicht einverstanden ist (und zu lernen
bzw. auszuhalten, dass gegen einen gestimmt wird)
Viele von uns sind nicht nur
KollegInnen, sondern auch Freund*innen oder zumindest gehen wir
freundschaftlich miteinander um. Das ist gut, sofern es dabei hilft,
aufrichtige Beziehungen zu pflegen und Spannungen zu vermeiden.
Dennoch haben viele uns wenig Erfahrung darin, Teil einer
demokratischen Organisation zu sein, in der teilweise harte
Entscheidungen getroffen werden oder in der die meisten Leute bereits
eine mehr oder minder gefestigte Meinung zu vielen Themen haben. Es
ist wichtig, nein sagen zu können und sich wohl dabei zu fühlen.
Vielleicht ist der Vorschlag einer/s KollegIn schlecht. Wenn du nicht
nein sagst, wer dann? Vielleicht gibt es andere, die mit dir
übereinstimmen, sich aber nicht trauen, dies zu äußern. Wenn
Gegenmeinungen geäußert werden, sorgt dies dafür, dass wir als
Organisation auf dem Boden bleiben und auch wirklich die Meinung und
den Willen der Mitglieder abbilden. Leider musste ich schon allzu oft
beobachten, wie eine kleine Gruppe etwas unterstützt und eine noch
kleinere Gruppe dagegen stimmt, während die große Mehrheit sich
enthält. So etwas darf einfach nicht passieren, da so die
Wahrscheinlichkeit sehr rasant steigt, dass schlechte Ideen sich
durchsetzen und die Gewerkschaft nach außen repräsentieren, obwohl
sie nicht den Mehrheitswillen der Mitglieder darstellt.
.
5. Fang
an, 10 Jahre voraus zu denken
Ich
bin kein Mensch, der sagt „Die Revolution wird niemals in unserer
Lebenszeit kommen.“ Wer weiß, der weltweite ökologische
Zusammenbruch könnte in unserer Lebenszeit kommen, mit allem was das
nach sich ziehen würde. Die IWW der 1920er Jahre diskutierte mehr
über Organisierung, um die Produktion nach dem Zusammenbruch des
Kapitalismus zu übernehmen, als darüber, zu den Waffen zu greifen –
und vielleicht gibt es etwas, das wir davon lernen können.
Nichtsdestotrotz
kommen wir nirgendwo hin (zumindest zu nichts Gutem), wenn wir uns
permanent am Rande der Umwälzung wähnen und all unsere persönlichen
und politischen Entscheidungen darauf gründen.
Möglicherweise
bildet es einen Teil der zu stellenden Gegenwartsdiagnose [Maybe it’s
part of the definition of our generation], dass sich Leute über die
Immobilienwerte ihres Zuhauses sorgen, während zugleich jeder dritte
Film das Ende der Welt prophezeit. Doch auch wenn dem so sei, ist das
ein Widerspruch, in dem wir zurzeit leben.
Bereits
die aktive Teilhabe an einer Organisation, welche die weltweite
Arbeiter*inneneinheit und Übernahme der Produktion vorantreibt,
unterscheidet eine*n von der Praxis der überwiegenden Mehrheit der
Bevölkerung Nordamerikas (wobei ich mich frage, ob sich diese Kluft
nach Occupy verkleinert hat). Vor allem wenn mensch in ihrer*seiner
Jugend beigetreten ist, kann es als eine natürliche Einstellung
erscheinen, dass alles auf der Stelle verwirklicht werden muss.
Warten ist scheiße. Also kriegen wir scheiß Jobs, die wir nicht
behalten wollen (siehe oben), wir erwarten, dass sich die
Organisation sofort verändert, sodass sie dem entspricht, wie wir
denken, wie es sein sollte, oder dass sie bedeutende Ressourcen in
ein wie auch immer geartetes Projekt des Monats versenkt, und wir
legen uns mit jeder*m an, die*der anderer Meinung ist (denn
offensichtlich liegen sie falsch). Wenn sich die Dinge nicht so
entwickeln, wie wir wollen, und wir keine langfristige Perspektive
für die Organisation bilden, dann können wir wirklich nur noch
austreten und zu etwas anderem übergehen – zu einer anderen
aktivistischen Formation, einer bezahlten Gewerkschaftsposition oder
einfach zu einem „normalen“ Leben. Das erschwert es uns,
erfahrene Mitglieder zu halten.
Von
Ungeduld und Impuls können viele gute Dinge ausgehen. Ich könnte
mich in Widersprüche verstricken, da auch ich neuere Mitglieder dazu
ermutige, Veränderungen in der Organisation zu erwarten und zu
fördern. Offensichtlich bedarf es einer Balance diesbezüglich.
Viele Organisationen, ganz zu schweigen von vielen Leuten, versuchen
Pläne für einige Jahre in der näheren Zukunft zu machen, um eine
Strategie für mögliche, zu erwartende und erwünschte Resultate zu
entwerfen. Zum Beispiel kann ein Betrieb eine Strategie für ein
bestimmtes Maß an vertikaler Integration und Marktanteil haben oder
eine Person mag ihre*seine Familiengründung planen, ein Haus
erwerben, ihre*seine Karriere befördern; all das erfordert das
Stecken realistischer Ziele und Zurückblicken [thinking
backwards?].
Wenn wir uns alle die IWW vorstellen, wie wir sie gerne in 10 Jahren
hätten, und unsere täglichen Tätigkeiten darauf stützten, wäre
das ein großer Schritt vorwärts für unsere Organisation.
Beispielsweise
lautet mein 10-Jahres-Plan für die IWW kurz gefasst, dass wir eine
bekannte, grundlegende Kraft für nordamerikanische
politische/wirtschaftliche Rahmenbedingungen sein sollten mit einer
ausgebildeten, heterogenen und aktiven Mitgliederschaft, einem
gewissen Maß an wirtschaftlicher Stärke und Präsenz außerhalb von
Großstädten. Wir sollten zudem die Fähigkeit besitzen, relativ
schnell als Organisation zu reagieren, wenn es nötig ist, sei es,
weil Druck auf uns ausgeübt wird oder weil die Arbeiter*innenklasse
aufgrund von Polizeigewalt oder Austeritätspolitik in Bewegung
gerät.
Um
konkret zu werden: Ich glaube, eine erreichbare Mitgliederzahl für
das Jahr 2024 liegt in Nordamerika bei 10 000. (Wobei ich befürchte,
dass dies zu bescheiden angesetzt ist, wenn mensch bedenkt, wie viel
sich in den vergangenen 10 Jahren verändert hat.) Das ist das
Zehnfache unserer derzeitigen Mitgliederschaft, doch würde die
Organisation weit anders aussehen. Gerade bestehen in Nordamerika 51
Ortsgruppen mit einer gemittelten Größe von ungefähr 11
Mitgliedern. Lediglich fünf Ortsgruppen haben um die 50 oder mehr
Mitglieder und sind stets in stattfindende Arbeitskämpfe
eingebunden, wodurch sie einen Anziehungspunkt in ihren Städten
darstellen, wie die Twin Cities (Bezeichnung für die Metropolregion
Minneapolis-Saint Paul; Anm. d. Ü.), die Bay Area (Bezeichnung für
die Region um San Francisco einschließlich Oakland an der Westküste
Kaliforniens; Anm. d. Ü.) oder Portland (ich habe die Informationen
dem General Organization Bulletin [GOB] (interner Newsletter der IWW;
Anm. d. Ü.) #7 2014 entnommen, bei den 10 Ortsgruppen ohne Angaben
habe ich je 10 Mitglieder angesetzt).
Für
eine Gewerkschaft mit 10 000 Mitgliedern, nehme ich an, bräuchten
wir 100 Ortsgruppen mit einer gemittelten Mitgliederzahl von 100:
einige mehr, andere weniger, einige Städte mit mehreren Ortsgruppen.
Das würde bedeuten, wir wären in viel mehr Städten präsent;
außerdem wären wir in diesen Städten gut etabliert, in lokalen
Arbeitskämpfen verortet und würden Arbeiter*innen anziehen, die
Interesse am Aufbau einer radikalen Arbeiter*innenbewegung hegen.
Wenn mensch anfängt sich vorzustellen, wie es aussehen könnte, wird
klar, dass unsere aktuelle Struktur nicht mithalten können und unter
all der Last zusammenbrechen wird. Wir müssten zu etwas übergehen,
wo Verantwortlichkeiten sowohl kollektiver als auch übertragbarer
sind. Was ich damit jedoch vor allem herausstellen möchte, ist der
Punkt, dass ich persönlich nie zufrieden bin mit dem Status Quo,
aber zugleich nicht erwarte, dass die Organisation sofort jeden
Vorschlag, den ich einbringe, weiterverfolgt/befolgt. Die
richtungsweisende Frage für alles, was ich in der Gewerkschaft tue,
lautet für mich: „Hilft es, den Weg dafür zu ebnen, die Art
Organisation zu sein, die dazu in der Lage ist, so zu werden, wie wir
sein müssen?“ [Does it help set the path for us to be the kind of
organization that is capable of becoming what we need to be?] (Oder,
um es in die Gamer-Sprache meiner Jugend zu übersetzen: „Wird uns
das weiterbringen, um ins nächste Level zu kommen?“).
Das
mag einer der wichtigsten Tipps für jede*n sein, die*der ein
Langzeitmitglied werden möchte. Keine*r kann oder sollte die ganze
Zeit dabei sein. Noch sollte jemensch das Gefühl haben, weniger
aktiv zu werden bedeutet, sie*er könnte genauso gut gleich
ihre*seine Mitgliedschaft aufgeben. Sich zurück zu halten kann viele
Formen annehmen. Ich selbst habe es einige Male in unterschiedlicher
Weise getan. Manchmal, vor allem wenn ich irgendwo war, wo es keine
Ortsgruppe gab, habe ich alle Verbindungen gekappt, von
E-Mail-Verteilern über Facebook etc. Doch ich blieb dabei, meine
Mitgliedsbeiträge zu begleichen und ab und zu mit Freund*innen aus
der Organisation zu plaudern. Zu anderen Zeiten stecke ich einiges an
Energie in eine Ortsgruppe und bleibe dennoch ohne Verbindung über
Verteiler u.ä. zur Gesamtorganisation. Wahrscheinlich kommt eine der
Ursachen für Burn-Out daher, dass eine Person, die total
abgeschnitten ist von konkreten Aktionen, sich nur ins „Second Life
IWW“ (wie es ein*e Freund*in nannte) einklinkt – die IWW der
E-Mail-Verteiler und Facebook-Posts. Diese Art des
Abgeschnitten-Seins von jeglicher konkreter Tätigkeit ist der Grund
für Streitigkeiten über Ideen, die viel hitziger und
unverhältnismäßiger werden, weswegen es immer schwerer fällt,
sich daran zu erinnern, warum irgendwer hieran beteiligt ist.
Über
Reaktionen auf diese Vorschläge würde ich mich sehr freuen. An die
anderen Langzeitmitglieder: Wie lautet eure Erfolgsstrategie? Was
hätte dir jemensch vor sieben Jahren sagen sollen? An die neueren
Mitglieder: Was sind deine Ziele für die Organisation und was hilft
dir dabei, diese zu erreichen?
Schicke
dein Feedback an den Autoren:
lifelongwobbly@gmail.com,
or message @lifelongwobbly on Twitter.
Zuerst erschienen im Industrial Worker #1774 im Mai 2015.
Übersetzt
ins Deutsche von Frieda Heumann und Jakob Schloer (IWW Berlin)